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Frage: Wieso geht die Digitalisierung in Deutschland so schleppend voran ?
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Klaus Stein Beantwortet am 16 Mrz 2022: last edited 16 Mrz 2022 19:21
Das ist eine sehr komplexe und politische Frage. Da steckt auch drin, das diese „Digitalisierung“ eigentlich ist.
Der einfachere Teil der Frage lautet: warum haben wir nicht überall schnelles Internet? Also wieso liegt nicht überall Glasfaser und stehen nicht überall moderne Mobilfunkmasten?
Das liegt daran, wie der Ausbau der technischen Infrastruktur geplant und durchgeführt wurde und wird (und wer daran verdient).
Ein Wasser-, Abwasser- und Stromanschluß gelten als Grundversorgung und die Gemeinde kümmert sich darum, daß die entsprechenden Leitungen liegen, auch wenn ich später meinen Strom bei einem anderen Anbieter kaufe. Für das Internet gilt dies in dieser Form bis heute nicht.
Eine kleine Anekdote hierzu: 1981 war geplant, dass die Deutsche Bundespost nach und nach ein Glasfasernetz aufbaut und alle Haushalte anschließt (wir wissen nicht, ob die damals eingesetzten Glasfasern heute noch sinnvoll wären, aber man könnte durch die verlegten Rohe neue schieben). Dann war Bundestagswahl und Schwarz-Schilling wurde Bundespostminister, stoppte das Projekt und führte stattdessen Kabelfernsehen ein – praktischerweise gehörte seiner Frau eine entsprechende Firma.Die viel schwierigere Frage ist: wieso nutzen wir digitale Technik nicht an all den Stellen, wo sie sinnvoll wäre? Zunächst mal: Ich glaube nicht, dass wir im Kindergarten Tablets verteilen oder den Grundschulunterricht durchgängig am PC oder Laptop machen sollten. Wir sollten uns gut überlegen, _wo_ der Einsatz von digitalen Medien sinnvoll wäre.
Aber ich glaube, dass der Einsatz an vielen Stellen sinnvoll ist. Ich kann Computer/Smartphone/Tablet/etc. zum Konsum einsetzen, d.h. ich schaue mir Filme an, spiele Spiele, lese Texte usw. Das ist nett, und häufig beschränkt sich „Digitalisierung“ darauf. Ich kann aber noch viel mehr.Ich fand an Computern immer toll, daß ich nicht nur passiv _konsumieren_ sondern sie auch _aktiv_ als Werkzeug einsetzen kann, ich kann Bilder bearbeiten, Texte schreiben, Sachen online stellen, ihn konfigurieren und schließlich auch selbst programmieren. Ich nutze ihn dazu, meine Ideen umzusetzen (und der Welt zu zeigen). Als ich mit dem Internet anfing, gab es dort keine Firmen, die irgendwas anboten, alles im Internet war von Leuten wie mir gemacht (geschrieben, programmiert, …) und wir haben uns gegenseitig unsere Webseiten betrachtet, gechattet usw. Das war unsere Welt, die haben wir gestaltet.
Wenn wir von Digitalisierung reden, stelle ich mir vor, daß wir Menschen zeigen, wie sie den Computer als Werkzeug für ihre Ziele nutzen können (sie müssen dazu nicht programmieren lernen), daß sie gemeinsam ihre digitale Welt (ihr Internet) gestalten. Dazu müssen aber die Menschen, die Entscheidungen treffen, verstehen, daß der Computer ein Werkzeug zur Gestaltung sein kann, daß das Internet ein Lebensraum sein kann und nicht nur dieses gefährliche Ding. Wenn aber Politikys und Lehrys das nie selbst so erlebt haben, wenn für sie das Internet der Ort ist, in dem Jugendliche illegale Filme anschauen und man neue Schulbücher bestellen kann, wenn sie nicht verstehen, daß Wikipedia eine Plattform ist, auf der wir alle _gemeinsam_ ein Lexikon _schreiben_ (und nicht nur lesen), wie sollen sie die richtigen Regeln machen und uns beibringen, kompetent mit Computer und Internet umzugehen?
Wir müssen lernen Informationen im Netz zu finden, zu bewerten, zu filtern, wir müssen verstehen, wie wir damit umgehen, wenn wir Sachen finden, die uns Angst machen oder verwirren, wie wir rausfinden können ob etwas gelogen oder wahr ist. Wie wir uns helfen und schützen können, wenn wir angefeindet oder gemobbt werden. Aber auch, wie wir eigene Arbeiten so ins Internet stellen, dass sie toll wirken, dass wir dabei keine Rechte anderer verletzen usw. und manchmal wissen Jugendliche das besser als ihre Eltern und Lehrer.
Und leider verkaufen sich Bücher, die vor dem „bösen Computer“, „bösen Internet“, „teuflischen Ballerspiel“ warnen, immer noch sehr gut, viele Menschen haben Angst vor Technik, sie nutzen sie zwar, wollen sich aber nicht damit auseinandersetzen, sie nicht verstehen. Stattdessen sollten wir lernen, wie wir die Technik in unserem Sinne nutzen, und wie wir mit den (durchaus vorhandenen) Gefahren umgehen.
Wieso müsst ihr immer noch einen Ranzen voller Schulbücher durch die Gegend schleppen? Verlage bezahlen Lehrys Geld dafür, Bücher zu schreiben, drucken diese, die Schulen oder die Eltern (je nach Bundesland) müssen diese kaufen und das Wissen in ihnen veraltet nach und nach. Stattdessen könnten wir Lehrys direkt dafür bezahlen tolle Webseiten (wie z.B. https://de.wikibooks.org/ ) zu bauen, die dann nicht nur Text und Bilder, sondern auch Animationen, Filme und interaktive Elemente wie Aufgaben etc. enthalten, und die immer auf dem neuesten Stand gehalten werden. Wir könnten sogar Frage-Antwort-Seiten und Kommentare haben, die Lehrys der unterschiedlichen Schulen könnten das Material ergänzen usw.
Nun gut, die Verlage würden nichts mehr verdienen.Was hat dies mit der Ausgangsfrage zu tun? Nun, um etwas voranzubringen, muss ich verstanden haben, welches Ziel ich erreichen will. In all diesen Prozessen hängen Menschen mit eigenen Vorstellungen und Wünschen, die das Ergebnis beeinflussen, ob Verlage Geld verdienen wollen, ob Lehrys Computer doof finden oder ob Politikys das Internet als etwas sehen, was sie vor allem kontrollieren wollen. All dies und noch viel mehr hängt in der Frage, ob Digitalisierung vorangeht. Das Verlegen von Leitungen und Bereitstellen von Computern oder Tablets ist da nur ein kleiner Teil.
PS: eine nochmal größere Frage ist die Digitalisierung in der Verwaltung, also ob ich online meinen Führerschein beantragen kann und Informationen über die geplanten Baumaßnahmen im Ort bekomme. Und auch da hängen wieder sehr viele Interessen drin, Behörden, die glauben Daten „gehörten“ ihnen und sie müßten sie vor uns Bürgys schützen, Beratys, die Geld verdienen wollen usw.
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Milos Jovanovic Beantwortet am 18 Mrz 2022:
Ich glaube Klaus hat schon sehr viele Aspekte der Frage beleuchtet, deshalb von mir eine etwas kürzere Antwort. Die grundsätzliche Frage ist ja „was ist Digitalisierung?“ und wie möchte man sie umsetzen? Aus meiner Sicht ist ein Grund wieso es so schleppend vorangeht die Tatsache, dass wir in Deutschland viele alte (sog. Legacy)-Systeme mitschleppen. Oft wird „Digitalisierung“ einfach gedacht als analoge Prozesse (noch mit Formularen und Papiere und Co.) die man „in den Computer“ verfrachtet. Man denkt die digitalen Prozesse also nicht grundlegend neu mit den möglichen, die man hat. Und als weiteres Problem: Die neuen Möglichkeiten sind jeden Monat neue. Auf der anderen Seite, und das macht es wiederum kompliziert, ist das wir manche Dinge auf eine Art digitalisieren, die etwas umständlich ist, wie zum Beispiel aktuell der Pilotversuch Zeugnisse per Blockchain abzusichern und zu „digitalisieren“. Das ginge wohl einfacher mit anderen Technologien, eine Blockchain ist im Prinzip nicht nötig.
Also kurz gesagt (und da bin ich glaube ich einer Meinung mit Klaus): Die Probleme der Digitalisierung in Deutschland sind mannigfaltig und man kann nur schwer die eine Antwort darauf geben. Man muss jeweils im Detail schauen was man digitalisieren will, dann wie man es machen will und zuletzt welche Optionen man dafür hat.
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Kommentare
Olav commented on :
Klaus‘ Antwort finde ich gut und stimmig. Am Ende würde ich meinen, liegt aber vieles auch daran, dass es wenig Entscheider aber viele Interessen gibt. Deutschland ist eigentlich ein föderales Staatsgebilde, das wird ja manchmal auch kritisiert. Am Ende ist es aber eigentlich ein guter Weg dahin, Entscheidungen auf kleinerer Ebene, schneller zu treffen – das geht ja runter bis in die Kommunen. Viele kleinere Gesellschaften oder Kommunen schaffen auch heute schon erstaunliche Dinge, die auf der großen Bühne nicht vorankommen. Aber Entscheidungen treffen – eben auch auf den kleinen Bühnen, muss man sich erst mal trauen und solange geht es oft nicht voran.